Mein erster Kontakt mit der LGV ist Jahrzehnte her: mein Großvater hat im Sommer immer gefragt: „Magst mitfahren auf die BAST?“ Als Kinder haben wir im großelterlichen Betrieb auf der Simmeringer Haide unsere Nasen selten ins Glashaus gesteckt, viel zu heiß und schwül, aber der kleine Ausflug im alten LKW war eine willkommene Abwechslung; Manchmal gab es ein Eis, wenn das frisch geerntete und vorbereitete Gemüse geliefert war.
Die BAST hieß in den 80er Jahren schon einige Jahre LGV-Frischgemüse, aber die Abkürzung der Bezirksabgabestellen, wie sie in den Jahren 1939 bis 1945 hießen, hielt sich eisern. Seit damals hat sich viel geändert, von der Produktion im Glashaus, über die Vorbereitung und Verpackung in der LGV, bis hin zur angeschlossenen Logistik. Um Frische und Qualität des Gemüses und der Kräuter uneingeschränkt zu gewährleisten, wird Lokalität, Nachhaltigkeit und bewusster Einsatz von Energie groß geschrieben.
Ich hatte die Gelegenheit, mit dem LGV-Vorstand Florian Bell zu sprechen über Vergangenes, aktuelle Entwicklungen und Perspektiven für die Zukunft.
Martin Skopal: Die LGV-Frischgemüse ist Österreichs größte Frischgemüse-Erzeugerorganisation. Wie ist die LGV zu dem geworden, was sie heute ist?
Florian Bell: Wir feiern heuer ein besonderes Jahr: unser 70-jähriges Jubiläum. Die LGV, wie wir sie heute kennen, ist 1946 gegründet worden als Genossenschaft. Aktuell haben wir 109 Genossenschaftsmitglieder, sie sind unser Herz und unsere Seele. Gerade die ältere Generation trägt noch immer den Stolz, nach dem Krieg die Stadt Wien aus den Trümmern mit dem Notwendigsten versorgt zu haben. Das ist auch der ursprüngliche Gedanke der LGV: die lokale Versorgung der Stadtbevölkerung mit Frischgemüse.
Seit unserem Bestehen haben wir viele positive und negative Dinge erleben dürfen und müssen: Tschernobyl oder die EHEC-Krise 2011 haben uns zugesetzt, aber der Zusammenhalt unter den Gärtnern hat sich als immer wichtiger werdende Stärke etabliert.
Unsere Gärtner liefern mit dem eigenen LKW an, erst heute hab ich den Herrn Schippani gesehen, der immer noch mit einem LKW aus den 70er Jahren unterwegs ist. Das ist möglich, da unsere Gärtner einfach ums Eck sind: Wir können vom Büro aus auf die ersten Betriebe schauen. Unsere Gärtner sind in Simmering, in Kagran und in Raasdorf, einzelne weiter draussen. In Raasdorf haben wir noch ein eigenes Gebäude.
Einmal umfliegen und das Gemüse ist vom Gärtner hier in der Sammelstation, noch einmal umfliegen und es ist beim Kunden. Diese Nähe ist unsere Spezialität, und das versuchen wir in Zeiten von Nachhaltigkeit und Regionalität zu bewahren. Wir könnten Wien größtenteils noch immer mit Gemüse versorgen: das ist etwas Spezielles und Einzigartiges, dass Wien so eine ausgeprägte landwirtschaftliche Kultur hat.
Martin Skopal: Wien wächst derzeit sehr rasch. In Simmering drängt der Wohnbau immer stärker an die landwirtschaftlichen Flächen heran. Gibt es Sorge, dass die Betriebe mit der Zeit über die Stadtgrenze gedrängt werden?
Florian Bell: Wir sehen das Problem und hoffen hier auf Unterstützung durch die Politik. Uns gibt es schon lange, die Gärtner noch länger: Die Betriebe gehen teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurück. Da wünscht man sich, dass es für die Wiener Landwirte eine langfristige Perspektive gibt. Uns ist es immanent wichtig, dass die Gärtnereibetriebe nicht aus der Stadt verschwinden.
Martin Skopal: Wie entwickeln sich die Mitgliederzahlen der Genossenschaft?
Florian Bell: Die Anzahl der Genossenschaftsmitglieder wird langsam weniger, aber die Flächen bleiben konstant. Das heißt: während früher viele Kleinbetriebe vorhanden waren, schließen sich diese immer stärker zusammen. Wir haben jetzt größere Betriebe, die immer noch familiengeführt sind. Das Feld ist sehr heterogen: die größeren Betriebe haben mehr Technik im Betrieb, übernehmen auch schon Tätigkeiten wie das Vorpacken, und gleichzeitig gibt es Betriebe, die weniger als einen Hektar Anbaufläche haben.
Martin Skopal: Die LGV ist bekannt für ihre Gemüse-Vielfalt: Wie viele Sorten sind es wirklich?
Florian Bell: Weit über 40. Beim Paradeiser haben wir die meisten verschiedenen. Die Hauptbestandteile unserer Produktion sind Fruchtgemüse, also Gurken, Paprika, Paradeiser. Dann gibt es noch viele Salate und Kräuter, sowie Freilandgemüse wie Karfiol und Kohlrabi. Dazu kommt das Wintergemüse. Aufgrund unserer Anbauweise sind wir sehr saisonabhängig.
Seit drei Jahren haben wir in Raasdorf unsere Convenience-Produktion: hier arbeiten wir speziell in Richtung On-The-Go-Verpflegung und Ready-To-Cook, mit einem Schwerpunkt auf Ein-Personen-Portionen. Wir haben jetzt Pflücksalatmischungen, die unsere Gärtner anbauen und wir in Raasdorf verarbeiten. Im Augenblick sind wir gerade dabei, Gemüsevariationen zu entwickeln, wie Grillgemüse.
Martin Skopal: Sie ergänzen das Angebot an Frischgemüse vermehrt mit kochfertigen Produkten?
Florian Bell: Wir wollen und müssen uns unterscheiden. Es ist das Markenzeichen der LGV seit vielen Jahren, in Richtung Spezialitäten-Gemüse zu gehen: Minigurken, Snackparadeiser, Spitzpaprika. Um einen Schritt vor der Konkurrenz zu bleiben, versuchen wir uns jetzt auch im Bereich Convenience: Halbfertigprodukte, die in der Küche Arbeit abnehmen. Deshalb haben wir nicht nur den klassischen Häuptelsalat, sondern auch Pflücksalat in der Tasse. Das passt sehr gut in Ein-Personen-Haushalte, auch mit dem Ziel, dass weniger Lebensmittel weggeworfen werden.
Martin Skopal: Gibt es Überlegungen im Bereich Direktmarketing, nicht nur über Zwischenhändler, sondern direkt an KundInnen zu verkaufen?
Florian Bell: Wir haben seit einiger Zeit das Gärtnerkistl im Angebot, das man online bestellen kann. Seit 21. Juni wird es österreichweit geliefert. Wir haben mit der Post den perfekten Partner gefunden, die außerdem CO2-neutral zustellen. In unserem Online-Shop wählt man entweder ein fertiges Kistl aus, oder stellt eines individuell zusammen. Bestellt man bis 11h vormittags, bekommt man das Gemüse garantiert am nächsten Tag vor die Haustüre. Zwischen 11h und 15h wird es bei uns gepackt, dann übernimmt die Post und ihre Logistik. In der Früh bekommen die KundInnen noch ein SMS, wann das Paket ankommen wird.
Wichtig dabei: das Gemüse muss immer gekühlt bleiben. Deshalb haben wir hier ein Mehrwegsystem entwickelt, damit die Kühlkette gewahrt bleibt. Selbst wenn niemand zu Hause ist, bleibt das Paket verplombt und die Kühltemperatur kann bis zu 48h gehalten werden. Ist man während der Zustellung in der Arbeit, gibt es kein Problem. Die Box wird von der Post nach Lieferung wieder abgeholt und zu uns zurückgebracht, um wieder befüllt zu werden. Wir sind glücklich, hier eine perfekte Lösung gefunden zu haben.
Martin Skopal: Die LGV verfügt über hier in Simmering über mehrere große Gebäude, die Gärtner haben große Flächen unter Glas. Vor kurzem habe ich mich mit der Geschichte des Glashauses beschäftigt; dessen Hauptproblem ist, dass es einen enormen Wärmeverlust hat, wenn die Außentemperatur unter ein bestimmtes Niveau sinkt. Das ist in der Hauptproduktionszeit kein Problem, in der Übergangszeit oder im Winter erzeugt das einen enormen Energiebedarf, will man die Produktion aufrecht erhalten. Wie deckt die LGV und ihre Gärtner ihren Energiebedarf?
Florian Bell: Auf verschiedene Art. Wir haben hier das größte BürgerInnensolarkraftwerk von Wien Energie am Dach. Es sind zwei Projekte, die umgesetzt wurden: Das erste am Dach der Sortieranlage, das zweite auf der anderen Seite der Oriongasse im Leergutlager. In Summe produzieren beide Anlagen mit einer Modulfläche von ca. 5500m2 nahezu 875 MWh sauberen Strom pro Jahr: das ist mehr als genug, um uns über das Jahr zu bringen, Kühlanlagen inklusive. Jede Überproduktion wird ins Netz eingespeist, vor allem im Winter, wenn unser unser Verbrauch sehr viel niedriger ist. Für die übrige Zeit haben wir den Betrieb gemeinsam mit der Wien Energie auf 100 Prozent Wasserkraft umgestellt.
Bei den Gärtnern ist es unser Ziel, dass alle Glashäuser Energie optimal nutzen: sie sollten in gutem Zustand sein und mit Beschattungssystemen und Lüftungssystemen ausgestattet. Manche haben Fliese, die die Wärme bei der Pflanze binden und mit ihr mitwachsen. Versorgt werden Glashäuser im Moment größtenteils über die Fernwärme Wien, ideal, da die Wege extrem kurz sind
Martin Skopal: Was unternimmt die LGV und ihre Gärtner, um den Energieverbrauch gerade im Winter und der Übergangszeit so gering wie möglich zu halten?
Florian Bell: Wir haben schon länger die strategische Entscheidung getroffen, im Winter die Glashäuser nicht zu heizen, auf Kunstlicht zu verzichten und ganz auf Saisonalität zu setzen. Uns ist Effizienz wichtig und wir glauben nicht, dass massiver Energieeinsatz der richtige Weg ist. Bei uns werden die Pflanzen wieder Ende Jänner ausgesetzt. In der Wintersaison gibt es Wintergemüse, das geringe Anforderungen an die Temperatur stellt, wie Radieschen, Vogerlsalat, Zeller oder Kohlsprossen.
Martin Skopal: Bei uns zu Hause haben sich alle auf die ersten eigenen Paradeiser gefreut.
Florian Bell: Was glauben Sie, wie es bei uns im Marketing abgeht, wenn die erste Gurke kommt? Das wird immer groß gefeiert. Meist ist das Mitte März, gemeinsam mit den grünen Paprika.
Martin Skopal: Die esst ihr dann gleich selbst?
Florian Bell: Na sicher! Man muss sich ja überzeugen, dass es wirklich schmeckt. Alle übrigen werden unter unseren Kundinnen und Kunden verlost.
Generell wird es immer wichtiger, dass beim Gemüse Transparenz herrscht: Wann wächst was, wann hat was Saison? Ich bin mir sicher, dass wir uns hier richtig positionieren: Wenn es wächst, gibt es das bei uns, und wenn nicht, dann nicht. Im Winter gibt’s keine Paradeiser.
Martin Skopal: Kurz: Der Kern der LGV ist Regionalität und Saisonalität.
Florian Bell: Das ist unsere Strategie. Es zählt Frische und Qualität, dafür stehen wir. Wir wollen, dass es schmeckt; Das erwarten sich auch unsere KundInnen. Wenn jemand ins Regal greift und LGV steht auf der Packung, rechnet er mit Qualität: das können wir nur erfüllen, wenn wir so weiterarbeiten, wie wir das jetzt tun.
Martin Skopal: Neben Regionalität und Saisonalität ist die Nachhaltigkeit ein zentrales Thema in der LGV. Nachhaltigkeit kennzeichnet die ganzheitliche Betrachtung der Produktion und des Handels mit den eigenen Erzeugnissen. Welche Schwerpunkte setzt die LGV?
Florian Bell: Unsere Planungsabteilung erstellt eine Saison- und Mengenplanung; wir übernehmen Sortenversuche, entwickeln neue Sorten, um ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen. Die Sorten müssen erstens schmecken, zweitens wachsen und drittens stressresistent sein, damit sie geeignet sind für unsere Anbauweise mit Nützlingen. Es gibt Arbeitskreise der Paprikagärtner, der Gurkengärtner, in denen alle Beteiligten eingebunden sind, die immer wieder Optimierungen suchen. Es ist ein Kreislauf zwischen Gärtner und Planungsabteilung, Qualitätsmanagement und Vertrieb.
Inzwischen sind die Gärtner spezialisiert auf ein oder zwei Sorten, um wirklich effizient und kostendeckend arbeiten zu können. Die Vielfalt wird über die Genossenschaft gestreut.
Dazu kommen sehr sehr viele Zertifizierungen, die unser Qualitätsmanagement betreut, nicht nur hier in der Genossenschaft, auch bei unseren Gärtnern. Dazu gehört das AMA-Gütesiegel, GlobalGAP, IFS, die ISO-Zertifizierung, die Bio-Austria-Garantie, sowie eine Anzahl an Handels-Eigenzertifizierungen wie ProPlanet, SPAR, Rewe, die mit eigenen Auditoren zu uns kommen und auch ein Vorlieferanten-Audit vorsehen.
Besonders wichtig ist uns das SA8000-Zertifikat zur Einhaltung sozialer Standards am Arbeitsplatz, da wir auch Saisonarbeiter beschäftigen.
Gut wäre es, wenn es eine Vereinheitlichung gäbe, da der Arbeitsaufwand für jede Zertifizierung enorm ist und ein Weniger für alle Konsumenten leichter zu durchschauen wäre.
Martin Skopal: Das hundertste Gütesiegel bring nichts mehr.
Florian Bell: Genau. Und jede Marktforschung ergibt, dass den Kunden das LGV-Logo das mit Abstand wichtigste Gütesiegel ist. Da wissen sie, dass hier österreichische Ware drin ist und die Qualität stimmt.
Martin Skopal: Eine flächendeckende Bio-Zertifizierung steht aber noch aus. Was fehlt, um diesen Schritt zu gehen?
Florian Bell: Unsere Kräuter werden in biologischer Landwirtschaft gezogen, der Rest nicht. Warum? Wir bauen unsere Pflanzen in Kokosmatten an, während die Bio-Zertifizierung ausschließlich den Anbau in Muttererde vorsieht. Wir haben erst heuer wieder die Rückstandswerte analysiert und festgestellt, dass es keinen Unterschied macht. Aber das Thema ist nicht vom Tisch: Es wäre eine Möglichkeit, in Zukunft noch weiter zu diversifizieren und das mit den Gärtnern Step-by-Step zu realisieren. Generell wird im Glashaus schon länger nichts gespritzt: kein Spritzmittel, kein Unkrautvernichter, wir setzen ausschließlich Nützlinge wie Hummeln ein.
Martin Skopal: Eine Frage zur Zukunft des Gemüseanbaus: In nächster Zukunft sollen in Japan erste vollautomatisierte Fabriken die Salatproduktion aufnehmen, wo nur noch hydroponisch mit UV-Licht gearbeitet werden soll. Wie wird sich die LGV für die Zukunft ausrichten?
Florian Bell: Wir setzen nicht auf Belichtung und Beheizung, wir setzen voll auf regionales und saisonales Gemüse. Ich bin der Meinung, dass das der wichtigste Punkt für den Konsumenten ist. Die Technologisierung und Automatisierung wird mehr werden, sowohl im Glashaus, als auch in den Sammelstationen. Aufgrund der Gegebenheit unseres Produkts wird der Faktor Mensch aber nie ganz verschwinden. Wenn wir auf Automatisierung setzen, geht es zum Beispiel um Mischungen von Gemüse in Einzelverpackungen; Die Mischung übernimmt die Maschine, den Rest die MitarbeiterInnen. Ziel ist es, einen effizienten und effektiven Prozess zu generieren, in dem Mensch und Maschine jeweils an optimaler Stelle arbeiten können.
Ein Beispiel: Beim Salat ist eine enge Abstimmung nötig von Vertrieb, Betrieb und Gärtner. Das Salatblatt darf nicht zu groß sein, wenn es für die Convenience-Produktion verwendet wird, es muss zum richtigen Zeitpunkt geerntet und geliefert werden, dann rasch verarbeitet. Damit haben wir viele Chargenwechsel und so in der Produktion immer einen handmade-Charakter: Der Faktor Mensch spielt auch weiterhin eine zentrale Rolle, sowohl bei den Gärtnern, als auch hier im Betrieb.
Martin Skopal: Das Stichwort Verpackung ist schon einige Male gefallen: Die Masse des LGV-Gemüses wird lose verkauft, vieles inzwischen aber auch verschweißt. Wie geht die LGV mit Verpackungen um?
Florian Bell: Mit unseren Partnern im Lebensmittel-Einzelhandel gehen wir immer mehr in Richtung Mehrweg-Verpackungen. Für die Lieferung nutzen wir traditionell Kartonagen, jetzt aber verstärkt wiederverwendbare Klappkisten, sowie waschbare Kunststoffpaletten. Wir versuchen, hier zunehmend den gesamten Ablauf unter Kontrolle zu bringen und nachhaltig zu gestalten.
Martin Skopal: Zur Zukunft: Gibt es Forschungsprojekte, an denen sich die LGV beteiligt?
Florian Bell: Gemeinsam mit der TU Wien, der Universität für Bodenkultur und Wien Energie arbeiten wir an einem CO2-Rückgewinnungsprojekt. Es geht darum, während der Verbrennung entstandenes CO2 abzuscheiden und sinnvoll wieder zu verwerten. Konkret soll das CO2 zu Düngemittel verarbeitet werden, das bei uns zum Einsatz kommen soll. 2015 wurde erfolgreich gestartet, Laufzeit ist bis 2018–19. Wir hoffen, dass sich diese Lösung langfristig etablieren kann im Sinn einer lokalen, ökologischen Kreislaufwirtschaft.
Martin Skopal: Herr Bell: Vielen Dank für das ausführliche Gespräch.
Fotos: © Martin Skopal/wachauphoto
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